J. Gavin u.a.: Énigmes mathématiques au temps de Charlemagne

Cover
Titel
Énigmes mathématiques au temps de Charlemagne. À propos des propositiones pour aiguiser l’esprit des jeunes


Autor(en)
Genequand, Philippe; Gavin, Jérôme
Erschienen
Lausanne 2021: Hauswedell Verlag
Anzahl Seiten
221 S.
von
Ernst Tremp, Mediaevistisches Institut, Universitaet Freiburg

Lateinische Rätsel wurden im angelsächsischen Raum besonders gepflegt, sie waren ein beliebter Gegenstand der Klosterlektüre und des Schulunterrichts. Eine in der Geschichte der Mathematik vielbeachtete Sammlung solcher scharfsinnigen Rätselfragen samt ihren Antworten bilden die «Propositiones ad acuendos iuvenes» (Aufgaben zur Schärfung des Geistes der Jugend). In 53 Rätseln werden Aufgaben in Geometrie, Algebra, Logik-Kombinatorik und weiteren Materien behandelt, gefolgt jeweils von einer erklärenden Auflösung. Die oft amüsante und aus dem Alltagsleben gegriffene Aufgabensammlung wurde im Quadrivium, den mathematisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen des Schulunterrichts, verwendet. Sie steht in der Tradition der sog. Unterhaltungsmathematik und wird dem angelsächsischen Gelehrten Alkuin († 804) zugeschrieben. Gleich schon das erste Rätsel, jenes von der Schnecke, die von einer Schwalbe zum Essen eingeladen wird, fesselt den Leser und macht ihn neugierig. Berühmt ist auch die Aufgabe Nr. 18 von einem Mann, der mit einem Wolf, einer Ziege und einem Kohlkopf in einem kleinen Boot einzeln einen Fluss überqueren muss, ohne dass der Wolf die Ziege oder die Ziege den Kohl frisst.
Der Mathematik-Historiker Jérôme Gavin und der Mediävist Philippe Genequand haben sich zusammengetan, um das Werk dem heutigen Leserpublikum zugänglich zu machen. Sie legen die erste integrale französische Übersetzung vor und stellen dem Traktat eine umfassende Einführung voran, worin sie das Werk analysieren und in den Bildungshorizont der Karolingerzeit einbetten. In zumeist leicht verständlicher Sprache werden in elf Kapiteln die Textüberlieferung der «Propositiones», die Organisation des Wissens, die Bedeutung der Mathematik und der Landvermessung, die antike Tradition und der kulturelle Austausch mit der arabischen Welt, die Persönlichkeit und das Werk Alkuins, das Schulwesen, die Bildungserlasse Karls des Grossen und die Aachener Hofschule vorgestellt. Die Autoren können wahrscheinlich machen, dass Alkuin der Verfasser der «Propositiones» ist. Als Ergänzung zur gelungenen Publikation hat die Universität Genf eine sehenswerte Sendung mit den beiden Autoren im Rahmen der «Cafés de l’histoire» produziert: https://mediaserver.unige.ch/play/157318 (abgerufen am 17.8.2022). So wird mittelalterliche Geschichte zeitgemäss vermittelt und attraktiv gemacht. Dem Büchlein ist zu wünschen, dass es den Weg in den gymnasialen und universitären Unterricht findet und der heutigen akademischen Jugend die Denkweise und Vorstellungswelt der Jugend vor 1200 Jahren näherbringen kann.

Zitierweise:
Tremp, Ernst: Rezension zu: Gavin, Jérôme; Genequand, Philippe: Énigmes mathématiques au temps de Charlemagne. À propos des propositions pour aiguiser l’esprit des jeunes, Lausanne 2021. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 116, 2022, S. 424-425. Online: <https://doi.org/10.24894/2673-3641.00127>.

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